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Jugend ohne Gott

Kapitel 15 + 16: »Der Dreck« und »Z und N«

Zusammenfassung

Im weiteren Verlauf der Nachtwache reflektiert der Lehrer weiter über seinen Glauben an Gott. An den Teufel glaubt er, davon ist er überzeugt, den Glauben an Gott aber meint er verloren zu haben.

Schließlich kommt er aber zu der Überzeugung, dass dies nicht stimmt und dass er nur nicht an Gott glauben will, als Ausdruck seines freien Willens. Dieser freie Wille, der sich in der Freiheit ausdrückt, selbst zu entscheiden, ob er an Gott glauben will oder nicht, konstatiert er als die einzige Freiheit, die ihm in der aktuellen Situation noch geblieben ist. Obwohl er sich auch hier im Klaren darüber ist, dass er nach außen je nach Anlass jeweils so tun muss, als ob, sowohl in Bezug auf das Glauben, als auch auf das Nicht-Glauben.

Der Lehrer denkt zurück an sein Gespräch mit dem Pfarrer und stimmt dessen Aussage zu, dass Gott das Schrecklichste auf der Welt sei (vgl. 54). Er fantasiert einen Ball aller Tugenden, Werte und Untugenden, die miteinander tanzen. Nur die Vernunft betrinkt sich und tanzt nicht mit.

Während der Lehrer noch mit seinem Gedankenkarussell beschäftigt ist, übersieht er fast, dass sich bei den Nachtwachen seiner Schüler etwas bewegt. Im Norden, wo Schüler Z Wache hält, ist ein fremder Junge aufgetaucht und übergibt Z einen Brief.
Der Lehrer verschweigt in seinem Bericht an den Feldwebel am nächsten Morgen die Beobachtung dieser heimlichen Brief-Übergabe, da er erst noch weitere Beweise für eine Verbindung von Z zur Räuberbande finden und ihn nicht vorschnell in Verdacht bringen will. Der dringende Wunsch, den geheimnisvollen Brief zu lesen und herauszufinden, welche Verbindungen es zwischen seinem Schüler und der Kinderbande gibt, wird für den Lehrer zunehmend zur fixen Idee

Später kommt Schüler R zum Lehrer und bittet ihn um einen anderen Zeltplatz, da ihn der ständige Streit zwischen seinen Zeltkameraden N und Z kaum schlafen lässt. Bei der Befragung des Schülers N stellt sich heraus, dass dieser sich vom nächtlichen Tagebuchschreiben von Z gestört fühlt. Zudem äußert er sich generell abschätzig über diese Tätigkeit und erwähnt zum ersten Mal das Kästchen, in dem Z sein Tagebuch verschließt.

Der Lehrer befragt schließlich auch noch Z, der als Grund für seine ständigen Raufereien mit N angibt, dass dieser ein »Plebejer« (58) sei, da er jegliche Art von Selbstreflexion ablehnt und agressiv wird, wenn er sie an anderen bemerkt. Er gibt zu, selbst ein Tagebuch zu führen und dieses in einem eigenen Kästchen zu verwahren. Aufgrund der wiederholten Aggressionen von N verstecke er dieses jetzt immer. Der Lehrer wollte ihn eigentlich auch nach dem geheimnisvollen Brief fragen, den er erhalten hatte, unterlässt die Frage aber, da er beschlossen hat, das Tagebuch lesen zu wollen und so die Gedanken und Geheimnisse Zs zu lüften.

Analyse

Die Sehnsucht nach Gott und der stärkeren Beschäftigung mit ihm zeigt sich bereits im nächsten Kapitel, in dem der Lehrer sich mit der Gottesvorstellung des Pfarrers eines schrecklichen, strafenden Gottes auseinandersetzt. Er schwankt bereits, ob er tatsächlich gar nicht glaubt, seinen Glauben also vollkommen verloren hat. Für ihn ist vor allem wichtig, dass er noch die Freiheit hat, nicht glauben zu wollen. Dieser Ausdruck seines freien Willens ist, so der Lehrer, »die einzige Freiheit, die mir verblieb: glauben oder nicht glauben zu dürfen« (52). Allerdings wird auch hier seine passive Haltung der Anpassung, des unauffälligen Mitlaufenden offenkundig, denn diese Lossagung vom Glauben bleibt eine rein innerliche, nach außen tut er natürlich so, als ob. Wie auch bei seiner politischen Haltung bringt ihn diese Verleugnung des eigenen Gewissens in Unfrieden und Unzufriedenheit mit seinem eigenen Leben.
Schließlich stimmt er bei genauerer Betrachtung des Elends des Lebens und auch der gegenwärtigen politischen Situation doch der Vorstellung des Pfarrers von Gott als »[dem] Schrecklichste[n] auf der Welt« (ebd. 54) zu.

Im weiteren Verlauf der Nacht imaginiert der Lehrer in einem langen inneren Monolog eine Art »Totentanz«, wie sie als literarische Darstellungen im Mittelalter genutzt wurden, um die Bedeutung und Macht des Todes im Leben der Menschen zu versinnbildlichen (vgl. Kaul/Pahmeier, S. 38). In diesem Ball aller Werte, Tugenden und negativen menschlichen Eigenschaften – nur die Vernunft tanzt nicht mit – geraten schließlich alle Werte durcheinander. Auch wenn der Tod hier nicht, wie in den mittelalterlichen Totentänzen aktiv mittanzt, kann der »Ball der Tugenden und Untugenden« dennoch als ein »Tanz in Tod und Übergang« gedeutet werden, »zumindest in Tod und Untergang moralischer Werte« (ebd., S. 39).

Zum Schluss des Kapitels wird, wie oft, das Strukturelement der Wiederholung eingesetzt; der titelgebende »Dreck« aus der Kapitelüberschrift taucht hier wieder auf als Sinnbild der faschistischen Ideologie und auch ihrer Anhänger, die diesen »Dreck gefressen« haben (54). Sprachlich lässt sich auch hier wieder eine Ambivalenz des Lehrers feststellen; in seiner übergroßen Ablehnung des totalitären Systems und ihrer Ideologie, die er immer im Verborgenen halten muss, nähert er sich selbst sprachlich der menschenverachtenden Terminologie dieses Systems an, in dem er Menschen, die ihm folgen als »Dreck« bezeichnet:

    Die moralische Resignation angesichts der politischen Verhältnisse und der Hass des Lehrers auf seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sind auf ihrem Höhepunkt. (Kaul/Pahmeier, S. 39)

Die nun folgende Beobachtung des Lehrers, wie ein fremder Junge dem Schüler Z während seines Wachpostens einen Zettel zusteckt, wird wieder ganz auf der Handlungsebene und daher im Präsens erzählt. »Die Erzählzeit ist zeitdeckend, das heißt, es handelt sich um eine szenische Darstellung, bei der in Echtzeit geschildert wird, was geschieht« (ebd.). Das Kapitel bildet daher einen Gegensatz zum letzten Kapitel, was sich auch sprachlich und stilistisch an den kurzen parataktischen und elliptischen Sätzen im durchgehenden inneren Monolog zeigt.

Mit dem ersten Verdacht des Lehrers gegen Z, seinem erwachenden Interesse an dem heimlich erhaltenen Brief, den zu lesen für ihn eine »fixe Idee« wird, beginnt eigentlich schon eine Art Detektivhandlung im Roman, obwohl der Mord, der Ausgangspunkt für die Kriminalhandlung ist, noch nicht geschehen ist.

Im Gespräch mit Schüler N, den der Lehrer befragt, da er sich immer im Zelt mit Z rauft, erweist sich dieser erneut als treuer Anhänger des totalitären Regimes, der dessen Ideologie ungefragt übernimmt. Er wiederholt sie in hohlen Phrasen, als der Lehrer ihn fragt, warum er sich über das Tagebuchschreiben von Z empört: »Das Tagebuchschreiben ist der typische Ausdruck der typischen Überschätzung des eigenen Ichs« (57). Und er reagiert mit Gewalt, wenn ein anderer, wie der Schüler Z, von den vorgegebenen Normen abweicht. Dies ist im Falle Zs sowohl die intellektuelle Beschäftigung als auch die Reflexion und die Auseinandersetzung mit der Innenwelt der eigenen Gefühle durch das Schreiben eines Tagebuchs. Dies widerspricht schon der militarisierten Erziehung der Jugend, in der es nur um körperliche Stärke und Überlegenheit geht. Hier spiegeln sich die NS-Ideale einer harten und geistfeindlichen Jugend. So sagt der Schüler Z dann auch in seinem Gespräch mit dem Lehrer über N: »Er kann es nämlich nicht vertragen, daß man über sich nachdenkt. Da wird er wild« (58).
Das Tagebuch Zs ist ein Zeichen seiner Individualität, die ihn aus der Masse hervorhebt und die er mit dem verschließbaren Kästchen als freien, inneren Raum vor allen anderen schützt. Auch dies widerspricht der politischen Ideologie, die keine individuelle Eigenart zulässt, sondern die Rolle des Einzelnen nur als kleinen Teil der ‘Volksgemeinschaft’ festlegt.
Auffällig ist auch hier, dass der Lehrer zwar den Wunsch hat, »diese[m] Blödsinn« (57), den N über das Tagebuchschreiben sagt, zu widersprechen, es aber nicht tut, aus Angst, dass dies vielleicht eine der Parolen aus der Radio-Propaganda sein könnte. Er achtet also immer noch sehr darauf, seine Anpassung durchzuhalten, nicht aufzufallen und nichts gegen die offizielle Ideologie zu sagen. So ist die Aufgabe eines Lehrers und auch der Schule, den Schülern Werte und Orientierung zu vermitteln, insgesamt eigentlich nur noch

    zu einem Werkzeug der herrschenden Diktatur verkommen. Ihre Aufgabe ist es, die Gymnasiasten zu Rassenhass, unbedingtem Gehorsam und zum Krieg zu erziehen. Jeglicher Individualismus muss unterdrückt werden, um ihnen Gemeinschaftssinn, absoluten Gehorsam, totale Unterordnung und Selbstaufgabe einimpfen zu können. (Tworek, Kommentar zu 146)

Da der Schüler Z sich offensichtlich dieser Anpassung, die auch der Lehrer für sich noch komplett übernommen hat, entziehen möchte und diese Freiheit verteidigt, auch wenn er damit aneckt, ist das Interesse des Lehrers an ihm geweckt. Sein Wunsch, nicht nur den heimlichen Brief zu lesen, um hinter die Diebstähle im Lager zu kommen, sondern auch gleich das Tagebuch, ist damit zu erklären. So ist auch sein Entschluss: »Ich werde seine Gedanken lesen. Das Tagebuch des Z« (58).

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.