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Jugend ohne Gott

Kapitel 1 + 2: »Die Neger« und »Es regnet«

Zusammenfassung

Der Roman beginnt am 25. März, dem Geburtstag des Ich-Erzählers, der als Lehrer für Geschichte und Geographie an einem Städtischen Gymnasium arbeitet und an diesem Tag die Aufsätze seiner 26 Schüler zum von der Aufsichtsbehörde vorgegebenen Thema »Warum müssen wir Kolonien haben?« korrigieren muss. Zu seinem Geburtstag hat er einen Blumenstrauß seiner Vermieterin und einen kurzen Brief mit Glückwünschen seiner Eltern erhalten. Er reflektiert dabei über sein Leben, mit dem er trotz der sicheren beruflichen Stellung als Beamter nicht zufrieden ist.

In Gedanken an seine Schüler teilt er sie nach den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen ein. Bis auf den ersten, Franz Bauer, nennt er alle weiteren Schüler in den beiden ersten Kapiteln auch nur mit dem Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens. Schon beim ersten Aufsatz fallen dem Lehrer die vielen hohlen Schlagworte und Phrasen auf. Diese zielen darauf ab, dass die Kolonien der heimischen Wirtschaft als Rohstofflieferant zu dienen haben und über allem das »Volksganze« stehe (10). Er nimmt sich aber zugleich vor, sich jeder Kritik daran zu enthalten, da er als Einzelner gegen alle ohnehin nichts ausrichten könne (vgl. 11).

Bei dem Satz des Schülers N: »Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul«, wird seine Empörung aber doch so groß, dass er kurz davor ist, ihn zu streichen und negativ zu kommentieren. Er unterlässt es dann aber in Erinnerung an eine Sendung im Radio, in der er genau diesen Satz bereits gehört hat und kommentiert: »was einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen« (11). Er wird sich der Macht des omnipräsenten Radios bewusst und seines Einflusses auf die Zeitungen und auf die Jugend.

Da das Heft des Schülers W fehlt, erinnert er sich daran, dass dieser nach einem verregneten Besuch im Fußballstadion an einer Lungenentzündung erkrankt ist und an seinen eigenen Besuch des gleichen Fußballspiels, das ihn alles um ihn herum vergessen ließ.

Am nächsten Tag, an dem es in Strömen regnet, schlichtet der Lehrer bei seinem Eintreffen im Gymnasium eine Rauferei, bei der fünf Schüler einen Einzelnen verprügeln. Wie er herausfindet, gibt es keinen konkreten Grund für den tätlichen Angriff und seinen Ermahnungen, doch zumindest nicht zu mehreren gegen einen vorzugehen, stehen die Schüler verständnislos gegenüber. Der Lehrer wird sich bewusst, dass sie nicht nur andere Werte haben, sondern auch eine andere Sprache sprechen. Er fragt sich, was das wohl für eine neue junge Generation werde, ob sie wirklich so hart wird, wie das Regime und seine Medien vorgeben oder ob es nur eine verrohte Generation werden wird. Der strömende Regen lässt beim Lehrer Gedanken an die biblische Sintflut aufkommen und an die Erbsünde, der der Mensch unterliegt.

Analyse

Das erste Kapitel führt mit dem 34-jährigen Lehrer für Geschichte und Geographie die Hauptfigur ein, aus deren Perspektive als personalem Ich-Erzähler der Roman erzählt wird. Die Handlung setzt in seinem gemieteten Zimmer ein, in dem er an seinem Geburtstag Aufsätze korrigiert. Damit bildet dieses erste Kapitel mit dem letzten Kapitel des Romans »Über den Wassern« einen Rahmen, da auch dieses wieder im Zimmer des Lehrers spielen wird, mit Blumen der Vermieterin und einem Brief der Eltern. Auch das in der Überschrift des Kapitels genannte Motiv »Die Neger« wird im letzten Kapitel wieder aufgegriffen. Dies ist bereits ein Hinweis auf den Grundkonflikt des Romans, der sich an einer rassistischen Bemerkung über die Menschenwürde schwarzer Menschen entzündet und der schließlich zur Abreise des Lehrers aus seinem Land führt: »Der Neger fährt zu den Negern« (141). Der Lehrer lebt in einem faschistischen, totalitären Staat, dessen menschenverachtende Ideologie im Gegensatz zu seinen eigenen humanistischen Idealen und Werten steht. Er passt sich jedoch dem neuen »Zeitgeist« (18) aus Angst vor Repressionen an und wird damit zum Opportunisten und Mitläufer (vgl. Kaul/Pahmeier, S.11).

Dieser innere Konflikt, der sich bei der Korrektur der Schüleraufsätze bereits andeutet, ist auch der Grund für die Unzufriedenheit des Lehrers, die er hier zweimal wiederholt und sogar noch steigert: »Nein, zufrieden bin ich eigentlich nicht. [...] Nein, zufrieden bin ich wahrlich nicht« (9). Auch wenn er sich gleich in Gedanken an seine »sichere Stellung mit Pensionsberechtigung« (ebd.) zur Zurückhaltung aufruft, ist dieses »Hadern mit dem totalitären Regime« und mit der eigenen aus Feigheit entstandenen opportunistischen Haltung »ein zentrales Motiv der gesamten Romanhandlung und ein Wesensmerkmal der Hauptfigur« (Kaul/Pahmeier, S.11).

Bereits beim ersten Aufsatz des Schülers Franz Bauer fallen dem Lehrer die hohlen Phrasen auf, die die Schüler hier von der allgegenwärtigen Propaganda übernehmen. Die von Bauer gebrauchten Schlagwörter »der heimische Arbeitsmann« und »das Volksganze« weisen auf den nationalistischen Charakter dieses Regimes hin. Dies lässt sich hier wie an zahlreichen weiteren Stellen als direkte Anspielung auf das NS-Regime lesen, auch wenn es im ganzen Roman keinen konkreten Hinweis, Namen oder ein Datum gibt, das tatsächlich das Deutschland nach der Machtergreifung Hitlers als Handlungsort bestätigte.
Dieses Gefühl, die eigenen Ideale zu verraten und gleichzeitig in einer Position der Ohnmacht, Resignation und Passivität verharren zu müssen, verraten auch die ersten Reaktionen des Lehrers auf die Aufsätze:

    Ich werde mich hüten als städtischer Beamter, an diesem lieblichen Gesange auch nur die leiseste Kritik zu üben! Wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle? (11)

Bei der offenkundig rassistischen Bemerkung im nächsten Aufsatz des Schülers N gibt der Lehrer fast seine Zurückhaltung auf, erinnert sich dann aber, eben jene rassistische Propaganda bereits im Radio gehört zu haben. Der Verweis auf das Massenmedium Radio, macht einen weiteren Bezug zum Nationalsozialismus deutlich, in dem das Propagandainstrument Radio eine große Rolle spielte und zeigt gleichzeitig die umfassende Infiltrierung der Schüler mit der staatlichen Ideologie, gegen die ein Widersprich bereits nicht mehr möglich ist: »Denn was einer im Radio redet, darf kein Lehrer im Schulheft streichen« (11).

An dem kurzen Geburtstagsbrief der Eltern, der voller Floskeln ist und auf wenig persönliche Bindung zwischen Eltern und Sohn schließen lässt, zeigt sich bereits die Vereinzelung und Distanz des Lehrers zu seinen Mitmenschen. Dies wird noch offenkundiger beim Nachdenken des Lehrers über seine Schüler, die er nur mit dem Anfangsbuchstaben der Nachnamen benennt, was auf wenig persönliche Verhältnisse schließen lässt und den Schülern ihre Individualität nimmt.

Dieser »Eindruck der Entfremdung« (Schlemmer, S. 20) verstärkt sich noch bei der Rauferei in der Schule am nächsten Tag, die der Lehrer zu schlichten versucht. Da bei der Auseinandersetzung fünf Jungen grundlos über einen einzelnen hergefallen sind, versucht der Lehrer die Schüler an die ungeschriebenen Gesetze von Anstand und Ritterlichkeit zu erinnern, zumindest nur einer gegen einen zu kämpfen.
Doch die Reaktion der Schüler spiegelt vollkommenes Unverständnis wider, nicht einmal das Opfer der Prügelei kann seiner Strafpredigt folgen. Die Schüler haben keinerlei moralische Werte und kein Verständnis für Gerechtigkeit mehr, sie haben sie wohl nie kennengelernt, zumindest haben sie für sie keine Bedeutung mehr. Der Lehrer muss seine Distanz erkennen; die Schüler sprechen eine andere Sprache, ein gegenseitiges Verstehen ist nicht mehr möglich. Er fragt sich, was aus diesen jungen Menschen werden wird, ob diese Generation eine harte, wie von der staatlichen Propaganda gefordert, werden wird oder nur eine rohe (vgl. 14).

Mit dem Motiv des Regens, das bereits in der Überschrift anklingt und das Kapitel über anhält, wird bereits eines der Leitmotive des Romans eingeführt: das Motiv der Schuld, das oft mit dem Regen verbunden ist und sich hier, wie an anderen Stellen, im Motiv der »Sündflut« (13) verdichtet. »Die innere Auseinandersetzung des Lehrers mit Gott und mit den Fragen von Schuld und Strafe ist ein Leitthema des Romans« (Kaul/Pahmeier, S. 14). Mit dem Bibelzitat aus dem Ersten Buch Mose (Genesis) reflektiert der Lehrer über die Sündhaftigkeit des Menschen und seine Bestrafung durch Gott, hier im Motiv der »Sündflut«; »denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf« (13). So nimmt der Lehrer auch die Jugend wahr. Dies erweist sich im Laufe des Romans jedoch als ein negativer Zug des Lehrers, der damit vor allem in der ersten Hälfte oft mit pauschalen Urteilen und »simplifizierenden Verurteilungen der Schüler aufwartet« und sie damit »entindividualisiert« (Tworek, Kommentar zu 147).

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.