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Jugend ohne Gott

Kapitel 13 + 14: »Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit« und »Der römische Hauptmann«

Zusammenfassung

Während der Lehrer und der Pfarrer im Pfarrhaus gemeinsam Wein trinken, debattieren sie über das Verhältnis von Kirche und Staat sowie über die Verantwortung der Kirche für die Schwachen der Gesellschaft.

Auslöser ihres Gesprächs ist das Bild der armen Heimarbeiterkinder in den Fenstern, die voller Hass auf die Welt draußen blicken und die dem Lehrer nicht mehr aus dem Kopf gehen. Der Pfarrer deutet gleich zu Beginn an, dass er ein Geistlicher ist, mit dem man offen reden kann und der auch Kritik an der Kirche nicht übel nimmt.

Der Lehrer vertritt die Ansicht, dass die Kirche immer nur die Interessen der Reichen vertritt, anstatt sich, wie es ihre Aufgabe wäre, um die Armen zu kümmern. Der Pfarrer stimmt dieser Ansicht zu, erwidert aber, dass die Kirche immer auf Seiten der Reichen stehen müsse, da es ihre Pflicht sei, immer auf Seiten des Staates zu stehen und dieser eben immer nur von den Reichen regiert werde. Der Staat als Einrichtung der menschlichen Gesellschaft sei »naturnotwendig, also gottgewollt« (46), es sei die »Gewissenspflicht« (ebd.) der Menschen, dem Staat gegenüber gehorsam zu sein.

Allerdings gibt der Pfarrer zu, dass die menschliche Gesellschaft keinesfalls ideal sei und damit auch nicht der aktuelle Staat, da sie vielmehr grundlegend von negativen menschlichen Eigenschaften wie »Eigenliebe, Heuchelei und roher Gewalt« (47) geprägt werde. So ist zwar der Staat selbst gottgewollt, aber welche staatliche Ordnung die jeweilige Gesellschaft ihm gibt, unterliegt nur dem freien Willen der Menschen und ist daher den menschlichen Schwächen ausgesetzt.

Im Laufe der weiteren Diskussion um die Rolle der Kirche im Staat und die Frage, warum die Kirche eher auf der Seite der Reichen als der Armen steht, erfährt der Lehrer auch, dass der Pfarrer in das Dorf strafversetzt wurde und nicht freiwillig hier ist. Daher rührt auch seine reiche Bildung, die ihn unter anderem den französischen Philosoph Pascal sowie die griechischen Philosophen Thales von Milet und Anaximander zitieren lässt.

Der Pfarrer vertritt einen alttestamentlichen Gottesbegriff vom strafenden, schrecklichen Gott und sieht den Grund für alles Schlechte in der Welt in der biblischen Erbsünde begründet. Der Lehrer gibt ihm gegenüber zu, weder an die Erbsünde noch an Gott zu glauben. Dem entgegnet der Pfarrer, dass die Idee einer Urschuld bereits bei den antiken Philosophen und damit lange vor dem Christentum existiert habe.

Am vierten Tag des Aufenthalts im Lager erzählt der Feldwebel, der bereits deutlich von den Anstrengungen des Zeltlagers gezeichnet ist, dem Lehrer gerade einen seltsamen Traum, als der Schüler L ihnen den Diebstahl seiner Kamera meldet.

Eine Befragung aller Schüler sowie eine Durchsuchung des betreffenden Zelts bringen kein Ergebnis, daher gehen der Lehrer und der Feldwebel davon aus, dass es eine Schwachstelle bei den aufgestellten Nachtwachen gibt, so dass die Räuberbande ins Lager gelangen konnte. Sie beschließen daher nun selbst in der Nacht abwechselnd die Wachen zu kontrollieren.

In der Vollmondnacht, während er die Wachen überwacht, reflektiert der Lehrer noch einmal über das Bild, das er bei seinem Besuch im Pfarrhaus gesehen hat. Erneut gesteht er sich ein, dass er keine Freude mehr an seinem Beruf empfindet. Vor allem aber bewegt ihn die Figur des römischen Hauptmanns, der auf dem Bild der Kreuzigung Jesu zusieht. Der Hauptmann hatte beim Sterben Jesu erkannt, dass dieser kein Mensch war, sondern hatte den neuen Gott in ihm erkannt. Auch wurde ihm in diesem Moment klar, dass seine eigene Welt nicht mehr lange bestehen würde, sondern dem Untergang geweiht war.

Dennoch zieht der römische Hauptmann, zumindest in der Vorstellung des Lehrers, daraus keine Konsequenzen. Er lebt einfach sein Leben weiter, obwohl er den Staat, in dem er lebte, durchschaut hatte und wusste, dass ihm durch das Voranschreiten der Barbaren der baldige Untergang drohte.

Analyse

Das Gespräch mit dem Pfarrer über Glaubensvorstellungen, über die Rolle von Kirche und Staat, über Gott und die Schuldfrage der Erbsünde markiert den eigentlichen Beginn der religiösen Handlungsstruktur. Diese bedeutet für den Lehrer, der seinen Glauben verloren hat, über mehrere Wandlungsstufen den Weg zurück zu Gott. Die Bedeutung dieses Kapitels ergibt sich bereits aus seinem Umfang; so überschreitet es die Seitenanzahl der sonstigen eher kurzen Kapitel fast um das Doppelte.

Der Pfarrer erweist sich als sehr gebildet, was den Lehrer zunächst einschüchtert. So zitiert der Pfarrer Ignatius von Loyola und Blaise Pascal, vertritt Staatsvorstellungen, die sich an der Nikomachischen Ethik von Aristoteles orientieren und spricht über Thales von Milet und Anaximander.

Die Diskussion zwischen Pfarrer und Lehrer dreht sich vor allem um das Verhältnis von Kirche und Staat und um die Frage der Schuldhaftigkeit des Menschen durch die Erbsünde. Die Glaubensferne des Lehrers ist auch in seiner Ablehnung der Institution Kirche bedingt, da diese sich seiner Ansicht nach nur um die Reichen kümmere, statt den Armen zu helfen. Allerdings ist auch die Einstellung des Pfarrers zu seiner Kirche nicht ganz ungetrübt. Darauf verweisen bereits die Tatsache, dass er auf das Dorf strafversetzt wurde und eigentlich kein »einfacher Bauernpfarrer« (46) ist, und seine Bemerkung, dass es der Kirche selbst guttue, dass es ihr heutzutage in vielen Ländern nicht gut gehe, denn so liege der Druck der Veränderung auf ihr.

Auffällig ist auch, dass der Pfarrer zwischen dem gottgewollten Staat und der jeweiligen staatlichen Ordnung unterscheidet, die dem freien menschlichen Willen entspringe und daher auch fehlbar sei (vgl. 46). Dies kann bereits als eine Kritik am herrschenden totalitären Regime aufgefasst werden. Diese bezieht sich bei der Person des Pfarrers allerdings auf die Tatsache, dass in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung kein Platz mehr für Gott sei, dass Gott also vergessen wurde, wie es ja auch schon im Titel des Romans mitschwingt.

Besonders verwundert ist der Lehrer, als der Pfarrer seine am alttestamentlichen, strafenden Gott orientierte Gottesvorstellung von Gott als »das Schrecklichste auf der Welt« (48) offenbart. Diesen Gott lehnt der Lehrer ab, an ihn kann und will er nicht glauben. Dies ist auch mit der Frage nach der Erbsünde verbunden, die Vorstellung von der Schuldhaftigkeit aller Menschen.

    Das Gespräch mit dem Pfarrer über Gott und Erbsünde ist Teil der Glaubens- und Schuldfragen des Lehrers, die immer sowohl moralisch als auch religiös sind. Die Selbstreflexionen des Lehrers darüber, wie wahrhaftig er sich gegenüber seinen eigenen humanen Idealen verhält, werden von ihm wiederholt mit einer Nähe bzw. Ferne Gottes in Verbindung gebracht. (Kaul/Pahmeier, 35/36)

Trotz aller Differenz in der Auffassung des Verhältnisses von Staat und Kirche oder in Fragen des Gottesbegriffs, ist es doch das Gespräch mit dem Pfarrer, das für den Lehrer den entscheidenden Impuls setzt, sich wieder mit Gott, mit seinem Glauben und mit einer Vorstellung von Gott auseinanderzusetzen. Noch ist sie vor allem von Ablehnung und Kritik geprägt, aber im Gegensatz zur Jugend, die zwar in ähnlicher Gottesferne ist, aber gar kein Verhältnis mehr zu Gott, zu jeglicher metaphysischen Dimension oder zu Fragen der Moral und des eigenen Gewissens hat, befindet sich der Lehrer nun wieder auf dem Weg der Suche nach Gott.

Das folgende Kapitel kehrt wieder zur Handlung im Zeltlager zurück. Im Unterschied zwischen der Begeisterung der Jungen für alle militärischen Übungen und der zunehmenden Ermüdung des Feldwebels, der in vier Tagen um zehn Jahre gealtert ist, zeigt sich der Gegensatz der Generationen. Die von der totalitären Ideologie völlig infiltrierten Jugendlichen sehen den Krieg als aufregendes Abenteuer, der erfahrene Soldat kennt die Realität des Krieges und wünscht sich nur noch in sein friedliches Zuhause.

Den größten Teil des Kapitels nehmen die Reflexionen des Lehrers auf seiner Nachtwache ein, die nach Entdeckung des ersten Diebstahls im Lager vom Feldwebel und vom Lehrer gebildet wurde, um etwaige undichte Stellen bei den wachenden Schülern zu entdecken. Auch hier wird der Wechsel von der erzählenden äußeren Handlungsebene zur erlebenden inneren Reflexionsebene mit einem Tempuswechsel vom Präteritum zum Präsens verbunden. Dies hat eine Intensivierung und Vergegenwärtigung der nächtlichen Überlegungen des Lehrers zur Folge.

Nach dem Kapitel »Geh heim!« kommt es hier zu einer Wiederholung des Eingeständnisses des Lehrers, dass er die Freude an seinem Beruf verloren habe. Dies liegt daran, dass die Erde zwar noch rund ist, »die Geschichten [aber nun] viereckig geworden [sind]« (52). Hier kann auch ein Hinweis zum Hakenkreuz der Nationalsozialisten gesehen werden.

Den größten Teil der Nachtwache verbringt der Lehrer mit Reflexionen über das Gemälde des römischen Hauptmanns, das er im Pfarrhaus gesehen hat und das ihn an sein Elternhaus erinnert. Wie bereits im Gespräch mit dem Direktor über die Plebejer wird auch hier wieder eine Parallele zur antiken römischen Geschichte gezogen, um das Verständnis der Gegenwart und der eigenen Rolle in ihr zu verbessern.

Die Figur des römischen Hauptmannes geht auf die Bibelstelle Matthäus 27,54 zurück. Er erkannte als Zeuge der Kreuzigung Jesu Gott und realisierte, dass das römische Reich durch das Erscheinen dieses Gottes dem Untergang geweiht ist. In der Vorstellung des Lehrers zieht der Hauptmann jedoch aus dieser kommenden, umwälzenden geschichtlichen Entwicklung sowie seiner Gotteserkenntnis keine Konsequenzen, sondern zieht sich als Pensionist schließlich ins Privatleben zurück.
In der Figur des römischen Hauptmanns sieht der Lehrer sich und seine Situation gespiegelt. Auch er ist Zeuge umfassender gesellschaftlicher Veränderungen, seine »alte Welt« christlich-humanistischer Werte ist durch den Aufstieg eines totalitären, faschistischen Regimes dem Untergang geweiht. Und wie der römische Hauptmann scheut auch er die Auseinandersetzung mit den aktuellen geschichtlichen Entwicklungen und zieht sich ins Privatleben, sogar in die eigene Innerlichkeit zurück und bleibt passiv. Allerdings hatte der Hauptmann bereits eine Gotteserkenntnis, während der Lehrer von nun an immer stärker auf der Suche nach Gott und in der Auseinandersetzung mit seiner Gottesvorstellung ist (vgl. Kaul/Pahmeier, S. 36 f.). Mit seiner späteren Wandlung und Entwicklung entfernt sich der Lehrer dann von der Spiegelfigur des römischen Hauptmanns, da er seine Passivität überwindet und eine aktive Anteilnahme an der äußeren gesellschaftlichen Realität und seinen Mitmenschen übernimmt.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.