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Jugend ohne Gott

Kapitel 31 + 32: »Fahnen« oder »Einer von fünf«

Zusammenfassung

Am nächsten Tag ist ein Feiertag, der »Geburtstag des Oberplebejers« (106), auf den Straßen finden Umzüge mit Fahnen und Transparenten statt, Jungen, Mädchen, ihre Eltern und alle anderen, die die Lügen glauben, die auf ihnen stehen, ziehen unter dem Fenster des Lehrers vorbei.

Er sitzt in seinem Zimmer und macht sich sehr kritische Gedanken über die Marschierenden, ihre Parolen und die Lieder, die sie singen. Für ihn sind sie »Divisionen der Charakterlosen unter dem Kommando von Idioten« (ebd). Dann fällt ihm ein, dass auch er bereits am Vorabend seine Fahne aus dem Fenster gehängt hat. Um in einem solchen System von »Verbrechern und Narren« (107) zu überleben, denkt er bei sich, muss man sich selbst wie einer von ihnen verhalten.

Doch dann fällt ihm ein, dass er durch seine Aussage vor Gericht seine Stellung bereits verloren hat. Selbst wenn er sich noch so sehr anpasst, ist seine Existenz in diesem Staat ruiniert. Doch seine Begegnung mit Gott hat sein Leben und seine Perspektive auf alles um ihn herum verändert. Er hat Abstand gewonnen von allen Zwängen, die ihn bisher eingeengt hatten. Sein Zimmer scheint ihm plötzlich kleiner zu sein, auch die Regierenden und alle ihnen folgenden Anhänger und Mitläufer, die »reichen Plebejer« (ebd.), erscheinen ihm winzig, arm und lächerlich; ihre Parolen, Transparente, Fahnen und das Radio nur noch verwaschen, er sieht und hört sie kaum noch. Alles wird für ihn übertönt von den Schreien Evas in seinem Kopf.

Der Lehrer bekommt zu Hause Besuch vom Schüler B, der ihm berichtet, dass er wüsste, dass T den Kompass verloren habe, der am Tatort gefunden worden war. Auf die Frage des Lehrers, ob er damit sagen wolle, dass T etwas mit dem Mord zu tun habe, antwortet B, dass er jedem alles zutraue, auch T einen Mord. Und er gibt auch ein mögliches Motiv für T als Täter an; er sei »entsetzlich wißbegierig« (110). Er wolle immer genau wissen, wie alles ist. So habe er sogar einmal zu B gesagt, dass er gerne mal sehen möchte, wie ein Mensch sterbe oder wie ein Kind geboren werde.

Dem Lehrer fällt auf, dass B gar nicht bei den Umzügen draußen vor seinem Fenster mit marschiert, wie er es eigentlich müsste. Der Schüler vertraut ihm an, er habe sich krank gemeldet, da er nicht mehr marschieren und sich auch nicht mehr herumkommandieren lassen wolle. B gesteht ihm auch, dass er nicht der einzige in der Klasse sei, der so denkt. Insgesamt seien es vier, die sich bereits nach der Bemerkung des Lehrers über die Menschenwürde schwarzer Menschen zusammengetan hätten. Auch sie hätten damals zwar den Brief gegen den Lehrer unter Druck unterschrieben, eigentlich teilten sie aber die Meinung des Lehrers. Nun hätten sie sogar einen geheimen Klub gegründet, zu dem noch ein Laufbursche und ein Bäckerlehrling gehörten. Sie träfen sich wöchentlich und läsen verbotene Bücher. Doch sie spotteten nicht über das Gelesene, wie es Julius Caesar vermutet hatte, sondern sprächen über das Gelesene und darüber, »wie es sein sollte auf der Welt« (111).

Da der Lehrer nach dem Vorbild seiner Zeugenaussage für die Mitglieder des Clubs der einzige Erwachsene ist, der die Wahrheit liebt, ist B nun zu ihm gekommen, um ihm seinen Verdacht und seine Beweise gegen den Schüler T anzuvertrauen und mit ihm zu überlegen, wie sie gemeinsam gegen ihn vorgehen könnten.

Analyse

Im folgenden Kapitel verlagert sich die Handlung wieder ganz auf die Reflexionsebene ins Innere des Erzählers. Bei der Beobachtung der Aufmärsche und Fahnenmeere zum »Geburtstag des Oberplebejers« (bei Horváth immer eine Anspielung auf Adolf Hitler, vgl. Kastberger/Polt-Heinzl, S. 40), brechen nun seine Kritik und seine Abscheu gegen die Brutalität und Verlogenheit des durchmilitarisierten totalitären Systems aus ihm heraus: »Divisionen der Charakterlosen unter dem Kommando von Idioten. Im gleichen Schritt und Tritt« (106).

Er zeigt sich selbstkritisch und hinterfragt sein Mitläufertum, denn auch aus seinem Fenster flattert ein »Fähnchen« (107) und er wird sich bewusst, dass der Sinn und Zweck seiner erzwungenen Anpassung durch den Verlust seiner Stelle und seines Ansehens nicht mehr gegeben ist. Der Konflikt zwischen Anpassung und Auflehnung hat sich verändert.

Es zeigen sich hier sehr deutlich die Wandlungen und Veränderungen, die sein Gotteserlebnis in ihm ausgelöst hat. Durch die Begegnung mit einem »höheren Herrn« ist er der drückenden Realität der faschistischen Diktatur, die sich an diesem Tag besonders deutlich auf den Straßen zeigt, enthoben. Alles scheint ihm weit entfernt, unwichtig und selbst die sonst so großen, furchteinflößenden »Gebieter« und »reichen Plebejer« »winzig«, »arm« und »lächerlich« (107). »Die Maßstäbe Gottes und des Handelns für Wahrheit und Gerechtigkeit nehmen dem Lehrer die Angst vor dem totalitären Regime« (Kaul/Pahmeier, S. 61).
Auch die allgegenwärtige Propaganda aus dem Radio erreicht ihn nicht mehr; die Schreie Evas in seinem Inneren sind lauter und damit die Stimme seines Gewissens, der Auftrag, ihr zu helfen: »Sie übertönt alles« (ebd.). Er hört nun auf diese innere Stimme, statt sie aus Opportunismus zu verleugnen.

Mit dem Besuch des Schülers B – einer von fünf Schülern mit dem Anfangsbuchstaben B in der Klasse – in der Wohnung des Lehrers scheint sein »Fischfang« weiter voranzuschreiten. Im Aufgreifen der Fisch-Metapher sieht der Lehrer den Fisch sich schon dem Netz nähern (vgl. 109), denn der Schüler B berichtet ihm nicht nur, dass der am Tatort verlorene Kompasses, ein wichtiges Indiz im Prozess, tatsächlich T gehört hatte, sondern er liefert ihm auch endlich das bisher im Dunkeln gebliebene Motiv des Schülers T, um einen Mord zu begehen: »der T ist entsetzlich wissbegierig, immer möchte er alles genau wissen, wie es wirklich ist, und er hat mir mal gesagt, er möcht es gern sehen, wie einer stirbt« (110). Es ist also reiner Wissensdurst und wissenschaftliche Neugier, das Wesen der existenziellen Dinge, das Leben und das Sterben durchschauen zu wollen; »ein Mordmotiv voller emotionaler Kälte, ja Emotionslosigkeit gegenüber anderen Menschen« (Kaul/Pahmeier, S. 62).

Der eigentlich grundlose, kaltblütige Mord an N wirft vor dem Hintergrund dieses emotionslosen Motivs die Frage auf, ob die Ursachen für diese »Deformation« des Schülers T in der menschenverachtenden, totalitären Ideologie des Faschismus liegen, in dem es keine humanen, moralischen Werte mehr gibt, die jungen Menschen eine Orientierung und einen Halt bieten könnten, sondern nur Ideale wie Härte, emotionale Kälte und Gehorsam. Die Schilderung der Jugend im Roman scheint in diese Richtung zu weisen; so erscheint der grundlose Mord wie eine grausame Steigerung der ebenso grundlosen Prügelei von fünf Schülern gegen einen aus dem 2. Kapitel »Es regnet« (vgl. Kaul/Pahmeier, S. 63).

    Nichts ist der heranwachsenden Generation offenbar heilig. »Jugend ohne Gott« heißt in diesem Zusammenhang: Jugend ohne Orientierung, eine bildungs- und haltlose, eine vereinsamte Jugend, die zu allem fähig und zu allem verführbar scheint. (Tworek, Kommentar zu 148)

Im weiteren Gespräch erfährt der Lehrer, dass die pauschale Verurteilunge seiner Schüler nicht ganz richtig war. Am Beispiel des Schülers B, der sich mit vier weiteren Schülern zusammengetan und einen Klub zur Lektüre verbotener Bücher gegründet hat, zeigt sich, dass nicht alle Schüler ideologietreue Anhänger des Regimes sind, sondern zumindest geistig Widerstand wagen. Es gibt auch in der jungen Generation Menschen, die alles hinterfragen, die, wie Schüler B, nicht mehr marschieren wollen und das »Herumkommandiertwerden« in der militarisierten Gesellschaft nicht mehr ausstehen können (110). Durch das Gespräch mit B kommt diese direkte Perspektive der Jugend in den Roman, wie es zuvor schon beim Tagebuch Zs der Fall war.

Der Lehrer erfährt, dass er durch die Überwindung der eigenen Passivität, durch den Mut seiner damaligen Aussage über die Menschenwürde schwarzer Menschen in der Klasse oder sein Geständnis vor Gericht etwas auslösen und bewegen kann. Die Schüler haben den Klub nach dem Konflikt mit N gegründet, weil sie seine humanistische liberale Gesinnung teilen. Und nun ist B zum Lehrer mit seinem Verdacht gegen Schüler T gekommen, da sie, vom Vorbild seines Geständnisses beeindruckt, zu der Überzeugung gekommen sind, dass er der einzige Erwachsene sei, der die Wahrheit liebe (vgl. 112).

Der Klub erweist sich auch in anderer Hinsicht als Anhänger des Lehrers, der sich seine Werte und Ideale zum Vorbild nimmt, denn auch die Schüler im Klub reden darüber, »wie es sein sollte auf der Welt« (111). Dies ist eine fast wortgetreue Wiederholung der Beschreibung des Lehrers von Z vor Gericht: »Der Herr Lehrer sagt immer nur, wie es auf der Welt sein sollte, und nie, wie es wirklich ist« (ebd.). Beide werden also als Idealisten charakterisiert, die sich nicht mit dem aktuellen Zustand der Welt zufriedengeben wollen. Damit stehen sie im Gegensatz zur Figur des Schülers T, der immer genau wissen möchte, »wie es wirklich ist« (110).

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.