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Jugend ohne Gott

Kapitel 11 + 12: »Der verschollene Flieger« und »Geh heim«

Zusammenfassung

Auf dem Rückweg ins Lager reflektiert der Lehrer die Ereignisse des Raubüberfalls. Er bestätigt seine Ansicht darüber, dass die heutige Jugend verroht ist. Allerdings fällt ihm auf, dass er den brutalen Überfall zwar verurteilt, sich aber eigentlich nicht darüber empört. Er wundert sich selbst darüber und seine Gedanken wandern zurück zur Anführerin der Räuberbande, dem Mädchen, von dem ihm zuvor schon aufgefallen war, dass es »groß und schlank« (38) war. Nun wünscht er sich, ihre Augen zu sehen und gesteht sich ein, kein Heiliger zu sein (vgl. 39).

Schließlich findet er noch den Karton, der der Mädchengruppe als »verschollener Flieger« für ihr Spiel diente. In Gedanken versetzt sich der Lehrer in den vermeintlich abgeschossenen Piloten und reflektiert seine Situation.

Bei einer Abkürzung durch den Wald trifft der Ich-Erzähler zufällig auf zwei Mädchen aus der marschierenden Gruppe, die er am Tag zuvor getroffen hat. Er belauscht heimlich ihr Gespräch, in dem sie sich über die sinnlosen und anstrengenden Geländespiele beschweren, denen sie im Lager ausgesetzt sind. Sie äußern auch ihre Unzufriedenheit über die schlechten Lebensbedingungen und wünschen sich nach Hause. Annie, eines der Mädchen, berichtet, dass auch die Lehrerin heimlich geweint habe. Sie geben den Männern die Schuld an ihrer Situation, die laut Annies Mutter verrückt geworden seien und die Gesetze machten (vgl. 41).

Der Lehrer schämt sich daraufhin, weil er die marschierende Mädchengruppe zuvor in Gedanken beleidigt und verspottet hatte. Er stimmt der Bemerkung über die verrückt gewordenen Männer zu, die man wie »tobende Irrsinnige in die Zwangsjacken« (ebd.) stecken sollte.

Bei seiner Rückkehr ins Lager informiert der Lehrer den von den Geländeübungen erschöpften Feldwebel, der die Jungen sofort antreten lässt und Wachen für die Nacht einteilt, jeweils vier Jungen für zwei Stunden, für jede Himmelsrichtung eine Wache. Die Jungen sind begeistert von dieser Aufgabe, die ihnen das Gefühl gibt, das Lager gegen eine tatsächliche feindliche Bedrohung verteidigen zu müssen.

Bei einem weiteren Besuch im Dorf wird der Lehrer vom Pfarrer auf ein Glas Wein ins Pfarrhaus eingeladen. Auf dem Weg dahin kommen sie an den ärmlichen Heimarbeiter-Häusern vorbei, an deren Fenstern überall Kinder mit weißen, früh gealterten Gesichtern im Dunkeln sitzen und bunte Puppen in Heimarbeit bemalen. Der Lehrer empfindet ihre starren Blicke als hasserfüllt. Obwohl sie genauso unbewegt und emotionslos wie seine Schüler blicken, ist hier kein Hohn zu spüren. Auch den Pfarrer grüßen die Kinder nicht.

Das Pfarrhaus wirkt auf den Lehrer sehr einladend und sauber, von einem Gemüsegarten umgeben, mit Gartenzwergen und Rauch, der aus dem Schornstein steigt. Ganz im Gegensatz dazu steht die angrenzende Kirche vom Friedhof als »Garten des Todes« umgeben, die er als streng wahrnimmt.

An der Wand des Pfarrhauses entdeckt er ein Bild, das den gekreuzigten Christus mit Maria und Johannes darstellt, neben denen ein römischer Hauptmann steht. Es hängt auch in seinem Elternhaus und erinnert ihn daher an seine Kindheit und löst in ihm den Wunsch aus, wieder klein sein zu können in der Geborgenheit eines Zuhauses.

Insgesamt dreimal ruft er sich in Gedanken selbst zu: »Geh heim!« (43/44), fragt sich aber auch, was er auf dieser Welt noch mache. Er erinnert sich daran, dass er seinen eigenen Glauben im Ersten Weltkrieg verloren hat, da er nicht begreifen konnte, dass Gott einen Weltkrieg zulässt. Und auch an seine Entscheidung als Jugendlicher, lieber Lehrer als Arzt zu werden, da er lieber den Gesunden etwas mitgeben, als die Kranken heilen wollte (vgl. 43/44). Doch es wird ihm klar, dass ihn sein Beruf heute und in der aktuellen Situation nicht mehr freut.

Analyse

Auf dem Rückweg ins Lager reflektiert der Lehrer das Geschehen und verurteilt die junge Generation noch einmal als verroht (vgl. 39). Das bezieht sich ein weiteres Mal auf den Titel des Romans, in dem die Jugend bereits als eine Generation ohne Moral und Gewissen beschrieben wird. Wie auch an dem Raubüberfall sichtbar wurde, herrscht bei der Jugend ganz klar das Recht des Stärkeren, was sich in der Ideologie des totalitären Staates als Recht der eigenen Nation spiegelt. Für Mitgefühl bleibt hier kein Platz mehr. Allerdings ist der Raubüberfall auch Teil der sozialkritischen Handlungsstruktur, da es sich um die Ärmsten der Gesellschaft handelt, die auf diese Weise ihr Überleben sichern.

Auffällig ist, dass der Lehrer selbst auch keine emotionale Beteiligung zeigt. Wie er selbst bemerkt, ist er nicht empört, sondern verurteilt nur (vgl. 40). Hier werden Parallelen zu dem immer nur beobachtenden, aber zu keiner Gefühlsregung fähigen Figur des Schülers T, dem »Fisch«, sichtbar.

Zu Beginn des Kapitels wird auch der Begriff des Unkrauts wiederholt. Diese Wiederholungen von Begriffen oder Motiven, sowohl in den Kapitelüberschriften als auch am Ende des jeweiligen Kapitels und oft auch noch einmal als Wiederholung am Beginn des nächsten Kapitels, durchziehen den ganzen Roman. »Durch diesen wechselseitigen Bezug entsteht der Eindruck der Geschlossenheit« (Krischel, S. 56). Auch werden die verschiedenen Kapitel so zu größeren Einheiten verbunden. Während das »Unkraut« im letzten Kapitel noch metaphorisch gebraucht wurde, ist hier nun das tatsächlich im Unterholz wuchernde Unkraut gemeint.

In die Reflexion über den Raubüberfall mischen sich auch immer wieder Gedanken an Eva. Das körperliche Interesse an ihr wächst, nun wünscht er sich sogar, ihre Augen zu sehen (vgl. ebd., 40), und damit, einen persönlichen Kontakt zu ihr aufnehmen zu können. Er ist sich der Unmoral seiner Gedanken und seines Begehrens eines minderjährigen Mädchens durchaus bewusst: »Nein, ich bin kein Heiliger!« (40) – und gleich darauf wieder sinnbildlich: »Das Dickicht wird immer schlimmer« (ebd.).

Nachdem der Lehrer auf dem Heimweg im Wald heimlich zwei Mädchen vom Mädchenlager, Annie und ihre Freundin belauscht hat, wird ihm klar, wie oberflächlich und abwertend seine Verspottung und Verurteilung der marschierenden Mädchentruppe am Vormittag war. Denn die beiden weinenden Mädchen erscheinen keineswegs als stolze, kriegerische Amazonen, wie sie die Lehrerin noch beschrieben hat. Vielmehr leiden sie unter den schlechten Lebensbedingungen im »Zuchthaus« des Schlosses. Der Aussage der Mutter des Mädchens, dass die Männer verrückt geworden seien und die Gesetze machten, kann sich der Lehrer in Gedanken nur anschliessen und er muss sich seine eigene Feigheit und Schwäche eingestehen, nichts gegen die »tobenden Irrsinnigen« (ebd. 41) zu tun. »Wiederholt erscheint er als heimlicher Zuschauer, der nur beobachtet und reflektiert, aber nicht den Mut hat, einzugreifen« (Kaul/Pahmeier, S. 32). Er verharrt also noch in seiner Passivität, wird sich ihrer aber immer mehr bewusst.

Zu Beginn des nächsten Kapitels zeigt sich, dass auch der Feldwebel, obwohl ein alter erfahrener Soldat, den Anstrengungen des vormilitärischen Drills der Jungen nicht mehr gewachsen ist. Vor allem aber stellt sich heraus, dass er gar kein Verherrlicher des Krieges ist, wie der Lehrer befürchtet hat; er möchte nicht einmal über den Krieg sprechen und verweist nur auf seine drei erwachsenen Söhne. Auch hier zeigt sich ein kurzer Blick auf die tatsächliche Realität des Krieges, die der faschistischen Kriegsbegeisterung entgegensteht. Bereits in den martialischen Parolen, die kurz danach ausgerufen und von den Jungen begeistert aufgenommen werden, zeigt sich wieder die ideologische Verherrlichung des Krieges (vgl. 42).

Die Begegnung mit den armen Heimarbeiterkindern, die »mit weißen alten Gesichtern« (42) im Dunkeln, ohne Licht sitzen und bunte Puppen bemalen, macht auf den Lehrer einen tiefen Eindruck. Zugleich ist diese, sprachlich mit fast expressionistischen Kontrasten beschriebene Szene eine der eindrücklichsten auf der sozialkritischen Handlungsebene des Romans. Auch hier ist, wie bei dem »Fisch«, der starre Blick auffällig, hier jedoch liegt nicht Kälte darin, sondern Hass und Trauer. In dieser Szene zeigen sich also andere Aspekte des Bildes der ‘verrohten’ Jugend.

Bei der Beschreibung des Pfarrhauses und der Kirche fällt die sprachliche und motivische Struktur von Parallelität und Gegensätzen auf: Das Pfarrhaus als gemütlicher Ort der Behaglichkeit, Sauberkeit und Ordnung, umgeben von einem Gemüsegarten mit Gartenzwerg. In der Kirche, die, wie im folgenden Gespräch offenkundig wird, mit der Institution Kirche gleichgesetzt wird, dagegen durch den Friedhof die Nähe des Todes, weiße Blumen, Kreuze, und alles wird als Verweis auf die Vergänglichkeit zu Staub. (vgl. 43)

Angesichts des Gemäldes an der Wand, das die Kreuzigungsszene und den römischen Hauptmann darstellt, und das ihn an seine frommen Eltern erinnert, bei denen dasselbe Bild hängt, reflektiert der Lehrer zum ersten Mal, wann und warum er selbst in seiner Jugend seinen Glauben an Gott verloren hat. Er konnte nicht begreifen, wie ein Gott das Grauen und Leiden eines Weltkrieges zulassen kann. Es handelt sich also um das Problem der Theodizee.
Dieses Bild löst in ihm Heimweh nach der Kindheit aus, in der aber auch eine Todessehnsucht mitschwingt in der dreimaligen Wiederholung der Kapitelüberschrift zum Ende des Kapitels: »Geh heim!« Hier schwingt zwar mit: »Heim, wo du geboren wurdest«, aber auch die Frage: »Was suchst du noch auf der Welt?» (44).
Dieser Wunsch nach einer schon jenseitigen »Heimat« resultiert aus der Unzufriedenheit des Lehrers mit seinem Beruf und seinem Leben. Er hatte einst den Beruf des Lehrers statt den des Arztes gewählt, weil er, statt Kranke zu heilen, lieber Gesunden etwas mitgeben wollte: »einen winzigen Stein für den Bau einer schönen Zukunft« (53/44).
Nun aber ist dieser Idealismus und diese Sinnerfüllung als Lehrer in einem totalitären System nicht mehr zu finden. Stattdessen herrscht emotionale Kälte. Sinnbildlich heißt es auch daran anschließend: »Jetzt kommt der Schnee« (44).

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.