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Jugend ohne Gott

Kapitel 25 + 26: »In der Wohnung« oder »Der Kompass«

Zusammenfassung

In der Mittagspause geht der Lehrer spazieren, es ist ein trüber, nasser Herbsttag. Er sieht die Mutter Zs auf einer Parkbank, sie beachtet ihn aber nicht.

Er wird sich bewusst, dass die Zeit, in der er gar nicht mehr an Gott glaubte, vorbei ist und er jetzt wieder glaubt. Allerdings mag er den Gott, an den er glaubt, nicht. Er empfindet ihn als kalt und stellt sich vor, dass er »stechende, tückische Augen« (89) habe.

Da er seine Zigaretten vergessen hat, geht er in ein kleines Tabakgeschäft, das von einem alten Ehepaar betrieben wird, das sehr freundlich miteinander umgeht. Sie kommen auf den Gerichtsprozess zu sprechen und der alte Mann sieht in diesem »deutlich Gottes Hand« (90) walten, da in diesem Fall alle Beteiligten schuldig seien, auch die Eltern, die Zeugen, der Feldwebel und der Lehrer. Sie alle kümmerten sich nicht mehr um Gott und glaubten nicht mehr an ihn, als ob er gar nicht da wäre. Als der Lehrer äußert, dass man ja nicht wüsste, wo Gott wohne, antwortet ihm der Tabakhändler, dass er überall wohne, wo er noch nicht vergessen wurde. Bei ihm und seiner Frau wohne Gott, denn sie lebten in Frieden und würden sich nie streiten.

In diesem Moment meint der Lehrer die Stimme Gottes zu hören, die ihm befiehlt, im Prozess die Wahrheit über das aufgebrochene Kästchen zu sagen, seine Schuld einzugestehen und die verdiente Strafe auf sich zu nehmen. Auf die Erwiderung des Lehrers in Gedanken, dass er dann auch bestraft werden würde und auch seine Stellung und sein Einkommen verliere, antwortet Gott, dass er dies auf sich nehmen müsse, damit kein neues Unrecht entstehen könne.

Bei dem Hinweis, dass er aber doch seine Eltern unterstützen müsse, erinnert ihn die Stimme Gottes an seine Kindheit, in der sich die Eltern immer nur gestritten hätten und kein Friede und keine Freude geherrscht habe. So war sein Elternhaus keines, in dem auch Gott wohnte.

Im Laufe des Prozesses sagen eine ganze Reihe von Zeugen aus, unter anderem auch der Bäckermeister N, der Vater des Mordopfers. Er denunziert noch einmal den Lehrer wegen seiner Bemerkung über die Menschenwürde schwarzer Menschen und wirft ihm allgemein eine staatsfeindliche Gesinnung vor. Der Gerichtspräsident scheint dies zu missbilligen.

In ihrer Vernehmung gibt die Mutter Zs an, er sei ein stilles, jedoch jähzorniges Kind gewesen, was er wohl von seinem verstorbenen Vater geerbt habe. Dann richtet sie das Wort direkt an ihren Sohn und fragt ihn, warum er angebe, dass der am Tatort gefundene Kompass ihm gehöre, wo er doch noch nie einen Kompass besessen habe. Auch sie vermutet, dass ihr Sohn den Mord nicht begangen habe und der wahre Täter vielmehr der Besitzer des Kompasses sei. Ihr Sohn widerspricht jedoch und bezichtigt seinerseits seine Mutter der Lüge. Daraufhin kommt es zum Streit zwischen Mutter und Sohn. Die Mutter wirft Z vor, schon sein Leben lang gelogen zu haben und nun nur das Mädchen beschützen zu wollen, die sie mit Schimpfworten beleidigt. Daraufhin sagt Z seiner Mutter, dass Eva mehr wert sei als sie und wird vom Gericht zu zwei Tagen Haft wegen Zeugenbeleidigung verurteilt.

Z wirft seiner Mutter außerdem vor, ihn immer vernachlässigt und die Dienstboten schlecht behandelt zu haben. Besonders ein Dienstmädchen namens Thekla ist ihm aus seiner Kindheit in Erinnerung, die, wie Eva, aufgrund der schlechten Behandlung durch seine Mutter schließlich Geld gestohlen hätte, um weglaufen zu können. Auch sie wurde damals erwischt und kam in eine Erziehungsanstalt. Dafür gibt Z nun seiner Mutter die Schuld, auch der Vater hätte diese Meinung geteilt.
Schließlich bricht Z mit seiner Mutter, in dem er ihr ins Gesicht sagt, dass er sie nicht mehr möge.

Analyse

Das Kapitel markiert einen Höhe- und Wendepunkt sowohl in der religiösen Handlungsstruktur, die von der Suche des Lehrers nach Gott bestimmt wird, als auch für den weiteren Verlauf des Prozesses und damit für die kriminalistische Handlungsstruktur. Beide Handlungsstrukturen treffen sich hier also in einem wichtigen Umschlagspunkt. Sie bedingen einander auch, denn die Suche des Lehrers nach Gott motiviert seine Aussage im Prozess, was wiederum die kriminalistische Struktur durch die Aussage Evas entscheidend beeinflusst. Das Geständnis des Lehrers im Prozess wiederum bringt ihn auf seinem Weg, Frieden mit einem als schrecklich empfundenen Gott zu schließen, einen entscheidenden Schritt weiter.

Vorbereitet wird dieser Wandel durch das Hadern des Erzählers mit Gott. Nachdem er zuletzt, bei der Suche nach dem verschwundenen Schüler N und den Assoziationen zur Sündflut, die Existenz eines schrecklichen, strafenden Gottes akzeptiert hatte, ist er sich nun sicher, dass er wieder einen Glauben gefunden hat: »Die Zeit, in der ich an keinen Gott glaubte, ist vorbei. Heute glaube ich an ihn« (89). Jedoch ist es noch immer ein strafender, ein ungerechter und kein guter Gott, an den er jetzt glaubt, jener, dem er eigentlich mit seinem freien Willen einen Strich durch seine Rechnung ziehen wollte. Und er lehnt diese Gottesvorstellung eines strafenden Gottes eigentlich immer noch ab. So vermutet er, Gott müsse »stechende, tückische Augen haben – kalt, sehr kalt« (ebd.). Dies nimmt auch die sich durch den gesamten Roman ziehende Augen-Motivik wieder auf, die sich in Bezug auf die »göttlichen Augen« noch einige Male im Roman wiederholen wird.
In seinem Gespräch mit dem alten Tabakverkäufer im Zigarettengeschäft in der Mittagspause des Prozesses kommt der Lehrer dann mit einer anderen Gottesvorstellung in Berührung, die für ihn wegweisend wird. Als er im Geschäft aufgehalten wird und sich daher auf ein längeres Gespräch mit dem alten Mann einlassen muss, spürt er selbst: »Es hat etwas zu bedeuten, daß ich hier warten muss« (90).
Zunächst öffnet ihm der Tabakverkäufer die Augen über den Zusammenhang von Gottesferne und Schuld. Aus seiner Sicht tragen alle am Prozess Beteiligten Schuld, da sie sich von Gott entfernt haben und so tun, »als ob er gar nicht da [wäre]« (ebd.). »Verantwortlich für die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen sind die Erwachsenen« (Tworek, Kommentar zu 148), denn auch die Eltern haben sich von Gott entfernt.
Und dann gibt der Alte den entscheidenden Hinweis, wo Gott zu finden sei: »Er wohnt überall, wo er nicht vergessen wurde. [...] Er wohnt auch hier bei uns, denn wir streiten uns nie« (ebd.). Schon zuvor war dem Erzähler aufgefallen, dass die beiden Alten freundlich zueinander sind, auch wenn sie sich eigentlich gegenseitig im Weg stehen (vgl. 89). So zeigt sich hier eine Vorstellung von Gott als friedliches Miteinander, von Fürsorge für andere Menschen und Mitgefühl. Dies ist dem strafenden Gott entgegengesetzt.

Nach der Einsicht in diese anderen, dem Lehrer bis dahin fremden Aspekte Gottes kommt es zum zweiten Gottes-Erlebnis im Roman, bei dem der Lehrer die Stimme Gottes hört, die ihn dazu auffordert, im Prozess die Wahrheit zu sagen, auch wenn das für ihn bedeutet, damit auch die Sühne für seine Schuld auf sich zu nehmen. Nur so ließe sich neues Unrecht abwenden (vgl. 52).

    Die Worte des Tabakverkäufers und die Stimme Gottes kann man so zusammenfassen: Der zwischenmenschliche Frieden als Abwesenheit Gottes kann nur entstehen, wenn die Menschen wahrhaftig und friedfertig sind. (Kaul/Pahmeier, S. 52)

Der Erzähler erinnert sich an seine Eltern, die er auch nicht mehr unterstützen könnte, wenn er seine Stelle verlieren würde und ihm wird klar, dass sie den genauen Gegensatz zu dem harmonisch und in Frieden miteinander lebenden Ehepaar im Tabakladen sind und bei ihnen Gott auch keinen Platz mehr hat, obwohl sie eine aufgesetzte Frömmigkeit leben.

Im weiteren Verlauf des Prozesses wird auch der Bäckermeister N vernommen und nutzt diese Gelegenheit, um den Lehrer aufgrund seiner »verdächtige[n] Gesinnung« (91) zu denunzieren. Aus der Reaktion des Gerichtspräsidenten kann geschlossen werden, dass dieser trotz seiner Stellung kein überzeugter Anhänger des Regimes ist.

Das weitere Kapitel wird von der Aussage der Mutter Zs bestimmt, die eine harte Konfrontation mit ihrem Sohn auslöst, an deren Ende der offene Bruch zwischen Mutter und Sohn steht. Auslöser ist der am Tatort gefundene Kompass, von dem Z noch immer behauptet, dass dieser ihm gehöre. Die Mutter dagegen will die Unschuld ihres Sohnes beweisen, indem sie ihn überzeugen will, zuzugeben, dass er gar keinen Kompass besitze. Aus der Konfrontation zwischen Z und seiner Mutter, die sich vor allem um ihr Verhältnis in der Kindheit von Z dreht, wird auch klar, dass Z ein von seiner herrischen und eifersüchtigen Mutter vernachlässigtes Kind war. Das Schicksal des ehemaligen Dienstmädchens Thekla, das wegen der schlechten Behandlung durch Zs Mutter Geld stahl, um weglaufen zu können, macht etliche Parallelen zu Eva sichtbar und erklärt auch Zs Mitgefühl für Eva.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.