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Jugend ohne Gott

Historischer Hintergrund und Epoche

»Jugend ohne Gott» entstand 1937 im Exil als Ergebnis eines endgültigen Entschlusses des Autors, fortan ohne fragwürdige moralische Kompromisse und »ohne Gedanken ans Geschäft« (Horváth, Gesamtwerk 4, 869 f. in Tworek, Kommentar zu 155) zu schreiben. In einer harten inneren Abrechnung mit der Zeit, in der er von 1934-1935 versucht hatte, im nationalsozialistischen Deutschland beruflich wieder Fuß zu fassen und daher auch Auftragsarbeiten geschrieben hatte, die eigentlich nicht mit seinen moralischen Werten und politischen Überzeugungen in Einklang standen. Nun sieht er: »Es gibt nichts Entsetzliches als eine schreibende Hur. Ich geh nicht mehr auf den Strich« (ebd.). Dies markiert den eigentlichen Beginn von Horváths Exil, in dem er in kurzer Zeit die beiden Romane »Jugend ohne Gott« und »Ein Kind unserer Zeit« schrieb, beides Auseinandersetzungen mit Protagonisten in totalitären Staaten. »Die grundsätzliche Wandlung des Lehrers in »Jugend ohne Gott» vom angepassten Opportunisten zum wahrheitsliebenden Emigranten trägt also sicherlich autobiografische Züge« (Tworek, Kommentar zu 155).

Auch wenn der Roman 1937 in einer sehr kurzen Schaffenszeit von nur zwei Wochen entstand, reichen die Vorarbeiten zu diesem Projekt, das ursprünglich den Titel »Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit« trägt (wie das entsprechende Kapitel im Buch), schon sehr viel länger, nämlich bis ins Jahr 1933/34 zurück. Dies zeigen Skizzen und das Fragment eines Dramas mit dem Titel »Der Lenz ist da! Ein Frühlingserwachen in unserer Zeit«. Für dieses Stück, das nur als Fragment und Exposé erhalten ist, kehrte Horváth sogar für einige Zeit heimlich in seinen Heimatort Murnau zurück, um Material zu sammeln, obwohl er 1933 von dort vor der Gewalt der örtlichen Nationalsozialisten geflüchtet war. So tauchen hier schon zahlreiche Schauplätze und Ereignisse auf, die später auch für »Jugend ohne Gott« übernommen wurden und die zum Teil direkten Bezug zu Murnau und der Umgebung haben. So beispielsweise das Zeltlager nach dem Vorbild des »Hochlandlagers« der Hitlerjugend von 1934 in der Nähe von Murnau (vgl. Tworek, Kommentar zu 159), das Lager der Mädchen im Schloß, die stillgelegte Fabrik mit sozialen Probleme als Folge, aber auch eine jugendliche Räuberbande und das nächtliche Treffen eines Liebespaares. Auch das Drama spielt in einem totalitären, vom Militarismus geprägten Staat, dessen Ideologie die Jugendlichen bis in ihre Gefühlswelt hinein prägt (vgl. Tworek, Kommentar zu 150). Allerdings wurde der Ich-Erzähler dann erst im Roman eingeführt und auch die mit ihm verbundene Detektivgeschichte fehlt in diesem ersten Entwurf. 

Es gibt außerdem noch weitere erzählerische Skizzen zu den Arbeiten des Romans aus dem Jahr 1935: »Ein Lehrer in heutiger Zeit« und »Ein unbekannter Dichter«. Hier entwickelt Horvàth auch schon die Zielsetzung des Romans, das gegen die »[geistigen] Analphabeten« gerichtet sein sollte (vgl. Tworek, Kommentar zu 151).

Der historische Hintergrund des Romans ist offensichtlich das nationalsozialistische Deutschland Mitte der 1930er Jahre. Es gibt sehr viele Parallelen, von der straff ideologischen Organisation der Schule, dem Druck auf die Lehrer mit geheimen Erlassen, sich in diese einzureihen, eine Erziehung der Jugend zum Krieg, die ihre komplette Lebenswelt bestimmt, die Verbreitung der allgegenwärtigen Propaganda durch das Radio und die Wochenschau, große militärische Aufmärsche etc. Dennoch werden im Roman an keiner Stelle das NS-Deutschland, seine politischen Vertreter oder Organisationen explizit erwähnt. So schafft Horváth das allgemeingültige Porträt eines um sein Gewissen ringenden Individuums in einer totalitären Diktatur.

Neben konkreten Schauplätzen gibt es auch einige Figuren im Roman, für die es reale Vorbilder im Murnauer Leben Horváths gab. So gilt als Vorbild für Julius Caesar neben Horváths Bruder Lajos der Hauptlehrer Ludwig Köhler (1884-1942), der aus dem Schuldienst entlassen worden war und ein häufiger abendlicher Gesprächspartner Horváths war. Als Vorbild für die Figur des Lehrers, in der Horváth auch eigene innere Konflikte verarbeitet hat, gilt daneben der Volksschullehrer und spätere Schulrat Dr. Leopold Huber (1893-1990). Wie Horváth wurde auch dieser Bekannte des Autors zur Zielscheibe von Angriffen örtlicher Nationalsozialisten in Murnau und wurde schließlich an eine Schule in Aidling in der Nähe von Murnau versetzt. Auch für den Pfarrer gibt es mit Pfarrer Karl Bögner (1883-1970) ein Vorbild. Auch er soll nach Aidling strafversetzt worden sein, wohl aus politischen Gründen und Verstößen gegen das Zölibat (vgl. Tworek, Kommentar zu 163).

Vor allem das Eingreifen in die Erziehung der Jugend, mit dem Ziel, die Stellung der Familien zu entmachten und sie von Beginn an in der NS-Ideologie zu prägen, das im Roman an vielen Stellen deutlich wird, hat sein Vorbild in der nationalsozialistischen Erziehungspolitik. Durch die Verpflichtung in die »Hitlerjugend« und den »Jungmädelbund« bzw. »Bund Deutscher Mädel« einzutreten, wurde größtmöglicher Einfluss auf die Jugend in allen Lebensbereichen genommen, mit dem Ziele, sie zu treuen Anhängern des NS-Regimes auszubilden und auch bereits auf die militärische Verwendung vorzubereiten. Dieses Ideal einer neuen Jugend charakterisierte Adolf Hitler so: »Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich [...] es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. [...] Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend.« (Rauschning, H: Gespräche mit Hitler, S. 237. In: Krischel, S. 17.)

Auch die Schulen wurden bereits kurz nach der Machtübernahme ‘gleichgeschaltet. So wurden schon im April 1933 mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« all jene Lehrkräfte aus dem Schuldienst entlassen, die der NS-Ideologie nicht entsprachen (vgl. Kliewer, S. 151). Ab 1936 wurde der Druck auf die Schulen verstärkt, vor allem der Deutsch- und Geschichtsunterricht sowie das Fach Biologie standen nun ganz im Kennzeichen der NS-Ideologie, der Sportunterricht diente zunehmend der »Wehrertüchtigung« und griff mit Zeltlagern auch in den außerschulischen Bereich ein (vgl. Klewer, S. 151).

Horváth kannte viele dieser Details des Lebens in der nationalsozialistischen Diktatur noch aus eigener Anschauung, da er 1934-1935 noch einmal für einige Monate in Deutschland lebte, zudem kam er immer wieder heimlich zurück nach Murnau, um Material vor Ort zu sammeln, obwohl 1933 auch seine Bücher im Rahmen der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 verbrannt wurden und seine Stücke auf Theaterbühnen in Deutschland nicht mehr gespielt werden durften (vgl. Kliewer, S. 150).

Dennoch gehört »Jugend ohne Gott«, 1937 im österreichischen Exil entstanden, zur literarischen Epoche der von 1933 bis 1945 zu verortenden Exilliteratur.

Dies ist eher ein Sammelbegriff all jener Autoren und Autorinnen, die ab 1933 durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten zur Flucht aus Deutschland, später auch wie Ödön von Horváth aus Österreich gezwungen waren und deren Denken und Schreiben für die nächsten Jahre außerhalb Deutschlands in verschiedensten Ländern und unter der belastenden Erfahrung des Exils stattfand. Häufig kehrten diejenigen Autoren, die die Zeit im Exil überlebt hatten, auch nach dem Ende der NS-Diktatur nicht mehr nach Deutschland zurück oder fanden keinen Anschluss mehr an ihre Erfolge vor dem Krieg. Zahlreiche Autoren begingen auch im Exil Selbstmord wie beispielsweise Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig oder Walther Benjamin. Ödön von Horváth wurde, obwohl in den 1930er Jahren als Dramatiker sehr bekannt, nach seinem frühen Tod für lange Zeit vergessen.

Die Exilliteratur kann aufgrund der Vielzahl der unterschiedlichen Autoren, die sie umfasst, keineswegs als eigene literarische Epoche mit einem gemeinsamen Programm oder Stil verstanden werden. »Oft verband die ihr Zugehörigen und deren Werk kaum mehr als das gleiche Schicksal der Vertreibung aus Heimat und Muttersprache« (Winkler, S. 9).

So gehörten zu den Exilautoren so politisch wie stilistisch unterschiedliche Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Thomas und Heinrich Mann, Klaus Mann, Anna Seghers, Erich Maria Remarque, Peter Weiss, Ernst Toller, Stefan Zweig, Joseph Roth, Hilde Domin oder Elias Canetti.

Und natürlich dauerten literarische Strömungen aus den Jahren vor dem Exil wie die Neue Sachlichkeit, der Naturalismus, der Realismus oder der Expressionismus in deren Schreiben weiter an.

Ödön von Horváths Schreiben war in den Jahren der Weimarer Republik in den späten 1920er und den 1930er Jahren stark von der literarischen Strömung der »Neuen Sachlichkeit« geprägt. Diese »suchte einen neuartigen Zugang, indem sie Bezug auf die gesellschaftlichen Entwicklungen nahm, ohne sich parteipolitisch klar zu positionieren« (Kliewer, S. 158). Ziel war es hier, die Gesellschaft und ihre Menschen möglichst objektiv und neutral darzustellen, beispielsweise durch Einblicke in das alltägliche Leben der Menschen, und so eine große Authentizität zu erreichen. 

Bei Horváth zeigt sich dieser Einfluss beispielsweise in seiner Methode der Entlarvung und »Demaskierung des Bewusstseins« durch die Sprache seiner Figuren, vor allem in seinen Volksstücken, später aber auch in seinen Romanen (vgl. Kliewer, S. 159). Dahinter stehen sozialkritische Absichten. Dies setzt sich in Ansätzen auch in seinen im Exil entstandenen beiden Romanwerken, »Jugend ohne Gott« und »Ein Kind seiner Zeit«, fort.

Weitere wichtige Prosawerke der Exilliteratur sind beispielsweise Anna Seghers »Das siebte Kreuz« (1942) und »Transit« (1944), Klaus Mann »Mephisto« (1936) und der Emigrantenroman »Der Vulkan« (1939), Erich Maria Remarque »Liebe Deinen Nächsten« (1941), Stefan Zweig »Die Schachnovelle« (1942) und Lion Feuchtwanger »Die Brüder Lautensack« (1943). Diese setzen sich oft konkret mit den Erfahrungen des Exils, mit Flucht und Vertreibung auseinander wie in »Der Vulkan« von Klaus Mann, Anna Seghers »Transit« oder Remarques »Liebe Deinen Nächsten«. Es gibt aber auch Romane wie »Mephisto« von Klaus Mann oder »Die Brüder Lautensack« von Lion Feuchtwanger, die sich mit dem Leben in der Diktatur auseinandersetzen, vor allem mit dem Verhalten der Opportunisten und Mitläufer, die vom neuen Regime profitieren und dabei ihr eigenes Gewissen verraten.

»Jugend ohne Gott« behandelt dabei als erstes Werk der Exilliteratur die konkreten Bedingungen der Jugend im Dritten Reich und ihre »Deformierung« durch das Aufwachsen in der Ideologie des Faschismus. Im Gegensatz zu den genannten anderen Werken konnte Horváth hier auch noch Erfahrungen aus eigener Anschauung einarbeiten.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.