Skip to main content

Jugend ohne Gott

Kapitel 43 + 44: »Die anderen Augen« oder »Über den Wassern«

Zusammenfassung

Der Lehrer erzählt die ganze Geschichte des Mordes an N von Anfang an und berichtet auch, was er von T inzwischen weiß. Dass dieser alle Geheimnisse zwischen Geburt und Tod genau ergründen und beobachten wollte, jedoch nur um seine Überlegenheit zu fühlen und alles verhöhnen zu können.

Nach seinem Bericht fühlt er sich bereit und erleichtert. Er freut sich sogar über den Tod von T, trotzdem er sich auch hier eigener Schuld bewusst ist, findet er es doch »herrlich und wunderschön, wenn ein Böser vernichtet wird« (140).

Der Lehrer berichtet auch vom Sägewerk, das nicht mehr sägt und von den armen Kindern der Heimarbeiter. Als er sich schließlich direkt an die Mutter wendet und zugibt, dass es tatsächlich sein könnte, dass er ihren Sohn in den Tod getrieben habe, fängt die Mutter an, immer lauter zu lachen und erleidet einen hysterischen Anfall. Der Lehrer kann nur das Wort »Gott« verstehen und fragt sich, ob auch ihr nun Gott erschienen ist, auch wenn sie keine Zeit für ihn hatte und ihn nicht einlassen wollte.

Während die Mutter noch um sich schlägt, verliert sie ein Stückchen Papier; es ist der fehlende Teil des abgerissenen Zettels, den T vor seinem Tod hinterlassen hat. Auf diesem steht die Begründung, warum ihn der Lehrer in den Tod getrieben hat: Dieser wusste, dass T N mit einem Stein erschlagen hat.

Als die inzwischen ruhige und wie zusammengebrochene Mutter den Lehrer anlächelt, meint er, in ihren Augen auf einmal wieder die dunklen Seen in den Wäldern seiner Heimat zu sehen. Ihm wird klar, dass dies die Augen Gottes sind, von denen er einst dachte, sie seien tückisch und stechend. Nun erkennt er, dass Gott die Wahrheit ist.

Nun beginnt auch die Mutter die Wahrheit auszusagen. Die Erwähnung der armen Kinder, die in den Fenstern die Puppen bemalen, haben sie erkennen lassen, dass das Leugnen keinen Sinn hat.

Am letzten Tag vor seiner Abreise nach Afrika packt er in seinem Zimmer seine Sachen. Wieder stehen Blumen seiner Vermieterin auf dem Tisch. Seine Eltern haben ihm einen Brief geschrieben, in dem sie sich über seine neue Stelle freuen, aber traurig über die große Entfernung sind, die nun zwischen ihnen liegt. Auch der Klub hat dem Lehrer einen Abschiedsbrief geschrieben.

Vor seiner Abreise hat er auch Eva noch im Gefängnis besucht und erkannt, dass sie tatsächlich Diebsaugen hat. Nach ihrer Entlassung wird sich der Pfarrer um sie kümmern. Julius Caesar hat ihm zum Abschied seinen illuminierten Totenkopf vermacht. Z ist bereits wieder in Freiheit und das Verfahren gegen den Lehrer wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Dennoch fährt er nun nach Afrika und will nichts zurücklassen.

Analyse

Auch in dieser Situation nach dem Selbstmord Ts übekommt den Lehrer, wie schon bei seinem Geständnis vor Gericht, der Drang, alles zu offenbaren. Und wie beim ersten Geständnis fühlt er sich auch jetzt befreit und leicht. Dazu kommt allerdings die Freude darüber, dass es keinen T mehr gibt. Auch darin zeigt sich wieder ein brutaler und menschenverachtender Zug, der dem des ihn umgebenden faschistischen Systems ähnelt. Genauso hatte er im Kapitel »Die Pest« beschrieben, wie die kalte totalitäre Ideologie die Seelen wie eine Pest verseucht. Mit der Charakterisierung Ts: »seine Liebe zur Wirklichkeit war nur der Haß auf die Wahrheit« (139) positioniert er ihn wieder als eine Gegenfigur zu sich selbst, der nun nach Wahrhaftigkeit strebt.

Während sich die Mutter von T zuvor durch emotionale Kälte und unbeteiligte höhnische Blicke ausgezeichnet zeigte, scheint die Erwähnung des stillgelegten Sägewerks und der armen Kinder der Heimarbeiter etwas wie Mitgefühl in ihr zu auszulösen. Sie erkennt, dass es keinen Sinn hat, die Wahrheit über das Motiv für den Selbstmord ihres Sohnes zu verschweigen und erleidet eine Art Nervenzusammenbruch. Die Tatsache, dass sie während ihres Anfalls das Wort »Gott« sagt, scheint darauf hinzudeuten, dass auch sie ein Gotteserlebnis ähnlich dem des Lehrers im Tabakladen vor seinem entscheidenden Geständnis hat, dass auch sie nun auf die Stimme ihres Gewissens hört und sich zur Wahrhaftigkeit entscheidet, um weiteres Unrecht zu verhindern.

So sieht der Lehrer plötzlich auch in ihren Augen die herbstliche Seenlandschaft seiner Heimat, wie zuvor in Evas Augen. Und er erkennt auch hier wieder »andere Augen«, die Augen Gottes, von dem er nun endgültig weiß, dass er die Wahrheit ist (vgl. 141). Das Augenmotiv ist nach der Verbindung mit den Fischaugen, den Rehaugen und den tückischen, stechenden Augen des strafenden Gottes nun in das Gottesmotiv übergegangen. Gott ist nun der Gott der Wahrheit, Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit.

Bei den Vorbereitungen des Lehrers für seine Abreise nach Afrika symbolisieren die Blumen und Briefe seinen Abschied von den für ihn wichtigen Menschen. Mit den Blumen der Vermieterin und dem Brief der Eltern schließt sich auch strukturell der Rahmen der Geschichte, die im gleichen Zimmer mit Blumen und Brief zum Geburtstag begonnen hatte. Deutlich wird durch die Parallelität der Szenen auch, dass der Lehrer zwar in der Zwischenzeit eine Wandlung erfahren hat, die anderen Personen aber unverändert und statisch sind. So schreiben die Eltern immer noch sehr floskelhafte Worte zum Abschied in ihrem Brief.
Vor allem aber trägt das Wort »Neger« zu diesem strukturellen Kreis bei. Nachdem das erste Kapitel den Begriff »Die Neger« in der Überschrift trägt und dies auch das Thema des sich in Kapitel eins vorbereitenden Konflikts mit N ist, endet der Roman nun mit dem ironischen Satz »Der Neger fährt zu den Negern« (142). Der von der totalitären Gesellschaft aufgrund seines Willens zur Wahrheit, Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit zum Außenseiter gemachte Lehrer fährt nun zu dem Außenseitern, die auch in der faschistischen Ideologie keinen Platz haben und bemüht sich, ein neues Kapitel in seinem Leben aufzuschlagen: »Laß nur nichts da!« (141)

Das Kapitel berichtet auch vom Abschied von Eva, von der der Lehrer sich nun auch innerlich verabschiedet, in dem er in ihren Augen nur noch »Diebsaugen« (141) erkennt und sie damit als die Außenseiterin sieht, die sie in der Gesellschaft ist und nicht mehr als das begehrenswerte und beschūtzenswerte Mädchen. Die Fürsorge, die er für sie empfand, hat er an den Pfarrer weitergegeben.

Die Kapitelüberschrift »Über den Wassern« bezieht sich konkret auf die Schiffsreise des Lehrers nach Afrika. In der Anspielung auf das Bibelzitat in der Kapitelüberschrift ist aber auch ein Hinweis auf das Schuldmotiv im Roman zu sehen. Schuld und Regen bzw. Wasser sind im Roman immer eng verknüpft. Bei mit Schuld beladenen Erlebnissen des Lehrers, wie der Prügelei von fünf Schülern gegen einen, der Suche nach N im Zeltlager, von dem der Lehrer schon weiß, dass sie ihn nicht mehr lebendig finden werden sowie auch in der Nacht des Selbstmords von T, in der der Lehrer schon das Netz für den Fisch sieht, regnet es jeweils stark. Nun ist der Lehrer der Sphäre der Schuld, des Regens und der Sintflut entkommen und ist bald »über den Wassern«. Die Bibelstelle, in der beschrieben wird, dass Gott zu Beginn der Schöpfung über den Wassern schwebte, verweist wieder auf den Gott der Wahrhaftigkeit und Mitmenschlichkeit, zu dem der Erzähler inzwischen gefunden hat.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.